Thomas Sandoz
Luc und das Glück
Roman
übersetzt von
Yves Raeber
ca. 240 Seiten, gebunden
ca. CHF 27 / Euro 25
ISBN 978-3-03867-033-9
Dezember 2020
Leseprobe.
Beschwingt fahren wir an diesem späten
Juninachmittag Richtung Norden. Mein Schalensitz
ist am Fussboden des Castel-Minibusses
festgezurrt. Julia, unsere Betreuerin, konzentriert
sich ganz und gar auf den Verkehr. Neben ihr sitzt
Pauline und nestelt versunken an ihrem T-Shirt.
Vor mir streiten Goon und Bierrot auf der Sitzbank
wegen eines zwischen ihnen liegenden Ninja
Turtles-Rucksacks. Ab und zu drehen sie sich
zurück und werfen mir vorwurfsvolle Blicke zu.
Ich habe meine Prothesen im Heim vergessen und
wir mussten deshalb früher von Steevys Geburtstagsparty
weg.
Der Verkehr tost. Motorräder schlängeln sich
zwischen rappelvollen SUVs und Kleinwagen mit
Bikes auf den Dächern. Zum dritten Mal innerhalb
einer halben Stunde spuckt das Radio für all jene,
die ihr Wochenende vorwiegend auf den Strassen
verbringen werden, die aktuelle Verkehrslage aus.
Pauline zappelt, sie muss aufs Klo.
"Schon jetzt?", wettert Julia. "Wir sind noch keine
hundert Kilometer gefahren."
Meine Heimgenossin bricht in Tranen aus, wirkt
noch zerknitterter als zuvor. Sie kann nichts dafür,
dass die Krankheit sie immer mehr auszehrt.
Unsere Erzieherin schimpft weiter. Bierrot dreht
mir sein Vogelgesichtchen zu.
"Juula Katze im Beehaaa?"
Goon grölt zum Wiener Walzer, der aus seinem
Kopfhörer schwappt. Was Julia nur noch mehr
nervt.
"Verdammt, kann er nicht zwei Minuten die
Schnauze halten?"
Goons Walkman ist auf voller Lautstärke, er hört
nur bruchstuckhaft, was über ihn gesagt wird.
Was angesichts seiner extremen Reizbarkeit so
ganz gut passt.
"Endlich keine Werbeplakate mehr, die uns einladen,
das pralle Leben auszukosten. Niemand,
der uns freundlich daran erinnert, dass wir nur
Mull sind."
Je schneller Luc wieder im Heim zurück ist, desto
besser. Dann kann er hoffentlich als virtueller
Dr. Goodluck seinen Klienten, den Gesundheitsminister,
in letzter Minute noch dazu bringen, die
absurdeste Sozialreform aller Zeiten zu kippen.
Gelingt ihm das nicht, sieht die Zukunft für alle,
die als locker verschraubt gelten, düster aus.
Und das tun sie alle vier, die von einer bärbeissigen
Betreuerin im ausgeleierten Minibus durch
die Nacht chauffiert werden; das libidinöse
Mondgesicht Bierrot, die spindeldürre, ewig
kränkelnde Pauline, der cholerische Muskelprotz
Goon mit seinem Faible für Andre Rieu, und auch
der feinsinnige Luc, der aus gutem Grund vorgibt,
seine Gehhilfe verloren zu haben.
Doch der Transporter schleppt sich durchs
Gebirge, dass es zum Verzweifeln ist. Ein Ende
der Irrfahrt ist nicht in Sicht. Und inzwischen ist
auch die Presse hinter Dr. Goodluck her.
Luc und das Gluck ist die aberwitzige Heimreise
eines hochkaratigen Behinderten-Quartetts,
ein beklemmender Spiessrutenlauf durch
eine überall lauernde Normalität, die gnadenlose
Schilderung eines virtuosen Eiertanzes um allerlei
Fettnäpfchen herum.
Thomas Sandoz hat eine beissende Satire über
den Leistungswahn geschrieben. Und ein bisschen
versteckt, die zarte, unmögliche Liebesgeschichte
zweier ungleicher Menschen.